Dr. Rudolf Post
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Universität Freiburg i. Br.
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Der Sidian

Im deutschen Südwesten, also in der Pfalz, Südhessen, Baden, Schwaben, im Elsass und der Schweiz kann man hin und wieder das Wort Sidian hören. Meist werden damit durchtriebene, raffinierte aber auch freche, nichtsnutzige, bösartige Menschen tituliert, wobei bei den Sprechern eine teils scheltende aber nicht selten auch eine durchaus anerkennende Beurteilung mitschwingen kann. Typische Verwendungen wären: Du Sidian! Das isch en rechter Sidian. Dazu existieren Zusammensetzungen wie Herrgottsidian, Herrschaftssidian oder Sidiansteufel. Bei manchen Benutzern wird eine Beziehung zu Satan hergestellt. Doch die gute Bezeugung mit dazu unvereinbaren Lautungen verbietet eine Herleitung aus Satan. Woher kommt nun aber dieses Wort?

Der früheste Beleg, den ich bisher gefunden habe, findet sich in dem Werk "Rheinschwäbisch" von Ludwig Eichrodt [Mundart der Karlsruher Gegend, 1. Aufl. 1868, S. 42]. Dort heißt es: Wart nor Kehndeitsch! Du Sidion, du! Gehscht wegg do vornde! Auch das Schwäbische und Schweizerdeutsche Wörterbuch melden Belege aus dem 19. Jahrhundert. Als Herkunft von Sidian wird in den meisten Dialektwörterbüchern, wenn auch bisweilen fragend, das französische citoyen 'Bürger' angesehen, eine Deutung, die vieles für sich hat und der auch ich zustimme, solange noch keine bessere gefunden werden kann. Wie aber ist die Bedeutungsentwicklung von 'Bürger' zu 'durchtriebenem, frechem, nichstnutzigen Kerl' zu erklären. Dazu ist festzustellen, dass das Wort citoyen in Frankreich im Zusammenhang mit der französischen Revolution eine große Rolle gespielt hat. Nachdem der Adel und die verschiedenen Stände abgeschafft waren, war der einzige Titel, der dem freien und gleichen Franzosen zustand, der citoyen 'Bürger' und er galt überall als Anrede. Das selbstbewußte und anmaßende Gebaren dieser citoyens, das ja bald in eine Schreckensherrschaft führte, muss von den Deutschen, die in den Kontakt mit den französischen Revolutionären und Revolutionstruppen kamen, doch etwas befremdlich wahrgenommen worden sein. Wer Kirchen ausplündert, Geistliche malträtiert oder Adelige köpft, kann schon mal als verwegener Teufelskerl betrachtet werden. Möglich wäre eine solche Deutung. Und dass das französische Wort citoyen im deutschen Mund zu Sidian umgeformt wurde, spricht nicht gegen eine solche Herleitung.


Belege zu Sidian aus den einschlägigen Dialektwörterbüchern. Sie wurden von Anna Herb angeschrieben - herzlichen Dank!
(Bestimmte Sonderzeichen aus den Originalen, können im Folgenden u. U. nicht dargestellt werden).

Badisches Wörterbuch (aus dem noch unpublizierten Material):
Sidian
sidian ›Karlsr., Pforzhm, Bühl (Rast.), Ottersw., Achern, Kappelrodeck, Urloffen, Endgn, Bötzgn, St. Georgen (Freib.), Sunthsn, Ehrenstet., Singen a. H., Radolfz., 1895 Altenschwand‹; sidjan ›Werthm‹; sidiān ›Steinen‹; sidjān ›Konst.‹; sidiōn ›Emmendgn‹; sīdian ›Hochstet. (Link.), Appenw., Tribg, Sulzburg, Neuenburg a. Rh.‹; sīdiān ›Pülfrgn, Lahr, Etthm‹; sīdiān 1932 ›Gengenb.‹; sīdijan ›Vimbuch‹; sīdijān ›O.scheffl.‹; sīdjān ›Tauberbisch.‹; sīdjan ›Kenzgn‹; siədian ›Schutterwald, Hofw., Sunthsn, Feldbg‹; sīədian ›Neusatz, Wehr‹; sīədjān ›Rheinbisch.‹; sīədjon ›Kappelwi.‹; siədion ›Nesselrd‹; siədjōn ›Bühlert.‹; sedian ›Münchw.‹; südian ›Hirschlanden‹; südiān ›Hettgn‹; Pl.: sidiane ›Albrecht‹ hs. u. ö. — m.: ‚durchtriebener, böser Mensch, Strolch, Satansbraten‘, teils anerkennend, meist aber als Schimpfwort, auch für Tiere (›Hirschlanden‹) oder scherzhaft für heißen Kaffee (›Neusatz‹), gebraucht ›Platz 262, Roedder Vspr. 527, Karlsr./Bad. Heim. 1916, 54, Wagner 184, Achern, Bühl (Rast.)/ZfdMu. 1913, 362, Burkart 247, R. Baumann 96, Bayer 62, G. Maier 158, Urloffen/Ochs-Festschr. 265, Kenzgn/ZfhdMu. 1902, 94, Braunstein Raa. 33, Schwendemann Ort. 1, 36, Fleig 134, Baum Huus 64, Feldbg/Markgr. 1971, 149, Glattes 46, Meis. VW. 37, Schäuble Wehr 70, Hegau/Der Hohentw. 1924, 73, Ellenbast 66, Joos 98‹; du Sidion du! ›Eichrodt‹ 42; du roter sīdian ›Neuenburg‹; 1932 den rōdə sīdiān hāwi gfrsə ‚der ist mir äußerst zuwider‘ ›Gengenb.‹; das iš en rechter Sidian "ein Kerl, der etwas besonderes kann, dem alles wider Erwarten gelingt, vor dem man aber auch auf der Hut sein muss" St. Georgen (Freib.); do, luege, mit derlei Züg's het 'r sie v'rgift, d'r Sidian ›Ganther Stechp.‹ 133; Jetz isch's nadürlig ... hinder dia Sidiane gange ... ‚nun hat man den Bösewichten versucht habhaft zu werden‘ ›eb.‹ 23. — Wohl zu frz. citoyen ‚Bürger‘, im Zusammenhang mit den Geschehnissen der französischen Revolution entlehnt. Die diphthongierten Formen wurden möglicherweise durch volksetymologische Anlehnung an Worte wie bedeutungsgleichem Siech oder sieden im Sinne von ‚hitzig aufbrausen‘ gebildet. — Weiteres gespenstig; vgl. Heiland-, Herrgott-, Herrschaftssidian; vgl. Kaib, Satan, Siech. — Els. 2, 327; Fischer 5, 1392; Pfälz. 6, 92; Schweiz. 7, 309; Südhess. 5, 1015.

Elsässisches Wörterbuch Band 2, 327
Sidian, ›Sedian‹ [Sitiàn Str.; Sétiàn Ndhsn.] m. (meist in Verb. mit dumm, einfältig oder lang Str.); schlimmer Mensch: Ihr sind alli zesammen growi Sediane! Ndhsn. — ob = franz. citoyen?

Pfälzisches Wörterbuch Band 6, 92
Sidian m.: ‘(frecher) Kerl, Mensch’, meist abschätzig, Sidian (d’sidiān) [Kaislt], Sittjann [KÜHN Hamet 138]; e langleibiger S. ‘ein hochaufgeschossener Mensch’ [Kaislt]. Die Kränk, wann de es net uff de Schdell duhscht, du Sittjan, du nixnutziger! [PfPr. 21.12.1932]. — Wohl aus frz. citoyen ‘Bürger’. — Els. II 327; Schwäb. V 1392; Schweiz. VII 309/10.

Schwäbisches Wörterbuch Band 5, 1392
Sídian m.: Schelte Eh.; elender Mensch eb. Kluger Kerl Buck, zugleich in der Kurzform ›Sidi‹. Eitler, Rechthaberischer EwWöss. — Auch weiter w. (Rastatt, Pfalz, Els. 2, 327) u. s. (Swz. 7, 309). Scheint wesentlich iron.-parod. gebraucht; dadurch und durch die ggr. Verbr. wird die Ableitung aus frz. citoyen wahrsch., offenbar seit der frz. Revol. eingedrungen. Doch auch Nebenform Silianus, s.d.

Schweiz. Wb. Band 7, 309
Sidian (Sĭdiān Ap; Sch; Th; Z. Sīdjan S, für BsStdt einmal Sidean geschr.) m., Pl. Sídiānen Ap; Th; Z: Schimpf- und Scheltw. Bs; B; S (nach Hänggi für unartige Knaben), insbes. durchtriebener, abgefeimter, verfluchter Kerl (verwünschend, aber auch anerkennend) Aa; Ap; B; GWl., We.; Sch; Th; Z, verleumderischer, boshafter Mensch Bs; Z, Trunkenbold, Strolch, schlechter Kerl Bs. Vgl. Siech (Sp. 194/6), Satan. Du S.! halb zornige, halb scherzhafte Schelte BE. Dër weiss d’ Sach anz’stellen. Bränd. 1904. Das isch en S.! Aa; S, auch en Sidians-Cheib! Th. Die Galgen-Chogen-Güeterjudenltt-men gär nümmer in’s Dorf inen lon; men chönnt fast mō2nen, die Sidianen schmeckind’s, wenn nō2men en arms Bǖrli in der Chrott ist. GOtt 1895, Enn von den bösesten Sidianen ist schon der Abt Cuno g’n. Schweizerm. 1891 (Ap). Wie en S., = wie en Siech (Sp. 196). Der Bach ... hed g’rūschet und getōset wie en S. GFient 1898. Auch bei Martin-Lienh. II 327, wo (wie von einem unserer S Gewährsmänner) wohl mit Recht frz. citoyen als Ursprung des W. vermutet wird. Vgl. Silian.

Südhessisches Wörterbuch Band 5, 1015
Sidian m. sidjān Er-Hess: (euphemist.) Teufel. Syn. Sidians-teufel; weitere → Teufel 1. — Sidians-teufel m. sidjānsdaifl Er-Hess: dass. — franz. citoyen. — Pfälz. 6, 92. Fischer 5, 1392. Els. 2, 327. Schweiz. 7, 309.

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